Weniger Kirchenaustritte

Die Zahl der Kirchenaustritte ist im Stadtdekanat Münster im Jahr 2020 im Vergleich zum Vorjahr gesunken: 1.717 Katholiken erklärten ihren Austritt, das waren 318 weniger als im Vorjahr. Es ist aber - trotz der Corona-Pandemie - dennoch die zweithöchste Zahl an Austritten, die bisher in einem Jahr festgestellt wurde.

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Von einer Trendwende möchte Stadtdechant Jörg Hagemann nicht sprechen. "Dieses Jahr holt uns die Wirklichkeit mit, soweit wir das im Moment wissen, deutlich höheren Austrittszahlen wieder ein." Er betont mit Blick auf die regionalen Zahlen der kirchlichen Statistik, die das Bistum Münster am Mittwoch (14.07.) veröffentlicht hat: "Diese Austritte aus unserer Kirche schmerzen mich sehr. Auch wenn ich oft höre, es hilft nicht, wenn ich dies jährlich wiederhole, so bleibe ich ehrlich: Dieser Exodus schmerzt sehr."

22 Personen, die sie früher einmal verlassen hatten, traten im Stadtdekanat Münster im vergangenen Jahr wieder in die katholische Kirche ein, hinzu kamen 15 Eintritte aus anderen christlichen Konfessionen. Durch die Taufe in die Kirche aufgenommen wurden 2020 im Stadtdekanat 571 Menschen, 415 weniger als 2019. Die Katholikenzahl lag Ende des vergangenen Jahres bei 138.515 (2019: 140.960).

Einen deutlichen Rückgang gab es im vergangenen Jahr auch bei den Menschen, die sonntags die Messe mitfeiern. 2020 waren es 6.929 und damit 5.013 weniger als im Vorjahr. Aufgrund der Corona-Pandemie war die persönliche Teilnahme an Gottesdiensten lange nur sehr beschränkt bis gar nicht möglich. Viele der elf Pfarreien im Stadtdekanat boten den Menschen während der Corona-Pandemie daher auch Gottesdienst-Übertragungen ins Internet oder in Soziale Netzwerke an, die nicht in die Statistik einfließen. Massive Rückgänge gab es aufgrund der Einschränkungen durch die Pandemie auch bei Erstkommunionen (2020: 762; 2019: 967), Firmungen (2020: 346; 2019: 645) und kirchlichen Trauungen (2020: 73; 2019: 281). In etwa gleich geblieben ist die Zahl der Bestattungen (2020: 1.224; 2019: 1.197).

Stadtdechant Hagemann: "Es gibt gute Gründe, um zu bleiben"

Stadtdechant Hagemann schließt sich der Meinung der Dogmatikerin Prof. Dr. Julia Knop von der Universität Erfurt an, die im Online-Portal katholisch.de betont hatte, dass es an der Zeit sei, dass die Institution Kirche den Katholik:innen "gute Gründe zum Bleiben geben" müsse. "Ja, ich glaube, es gibt gute Gründe", sagt Hagemann und gibt Beispiele: "Ich denke an die Begleitung und Beratung von Menschen in persönlicher und existentieller Not, an die Caritas und die Ehe-, Familien- und Lebensberatung und die wirklich gute Familienbildung, zum Beispiel im Haus der Familie. Ebenso sehe ich den Versuch, sich mit den Menschen an den Lebenswenden auf die Sinnsuche zu begeben." Dies geschehe in vielen Gesprächen, aber auch in gottesdienstlichen Feiern. 

Gleichzeitig wisse er aber um "gute Gründe, unsere Kirche zu verlassen" und nennt beispielhaft den Umgang mit Macht in der katholischen Kirche, die Tatsache, dass Betroffene sexualisierter Gewalt oft zu lange nicht im Zentrum standen, sowie "die nicht gelebte vollständige Geschlechtergerechtigkeit und den Umgang mit gleichgeschlechtlichen Partnerschaften". "Ich werbe mit meiner Person und in meiner Kirche dafür zu bleiben, um zu verändern", betont der Stadtdechant und wendet sich an die Frauen und Männer, die darüber nachdenken, die Kirche zu verlassen: "Bleibt doch bitte, um sie, die Kirche, zu verändern."

Stadtdechant Jörg Hagemann© Bischöfliche Pressestelle/Ann-Christin Ladermann
Stadtdechant Jörg Hagemann
© Bischöfliche Pressestelle/Ann-Christin Ladermann

Bischof Genn: "Kirche und Gesellschaft brauchen ein neues "Normal'"

Der Bischof von Münster, Dr. Felix Genn, erklärt zu den Zahlen:

"Einen gewissen Rückgang hatten wir in den vergangenen Jahren immer zu verzeichnen. Die Zahlen des Jahres 2020 sind aber massiv von der Corona-Pandemie beeinflusst. Kirchliches Leben in größerer Gemeinschaft war im vergangenen Jahr leider nur begrenzt möglich. Umgekehrt dürfen wir uns die Tatsache, dass 2020 weniger Menschen aus der Kirche ausgetreten sind, nicht schönreden. Die Amtsgerichte waren zeitweise geschlossen, und viele Menschen hatten zudem sicher andere Sorgen. Dieses Jahr holt uns die Wirklichkeit mit, soweit wir das im Moment wissen, deutlich höheren Austrittszahlen wieder ein.

Noch befinden wir uns - trotz aktuell mutmachender Entwicklungen in unserem Land - mitten in der Pandemie. Wie geht es nach der Pandemie oder dann, wenn wir diese wirklich weltweit im Griff haben, weiter? Diese Frage stellen sich derzeit viele. Sehr laut geäußert wird dabei der Wunsch nach einer Rückkehr zur Normalität. Gemeint ist damit der Zustand vor Beginn der Pandemie. Aber wollen wir das wirklich? Nein! Nichts wäre falscher, als so weiter zu machen wie vor der Pandemie. Denn es ist doch nicht normal, dass wir unseren Planeten für die kommenden Generationen unbewohnbar machen! Es ist nicht normal, dass wir in den reichen Ländern auf Kosten der Armen leben! Es ist nicht normal, dass Menschen, die sich nach einem guten Leben sehnen, auf Mauern und Stacheldraht stoßen, eingepfercht werden oder ihr Leben verlieren! Und es ist nicht normal, dass wir uns in der Kirche viel mehr um uns selbst drehen als für die Menschen da sind. 

Gesellschaft und Kirche brauchen nach der Pandemie ein neues ‚Normal‘. Die Krise, die wir als Gesellschaft und Kirche durch Corona erleben, muss ein Weckruf sein, überkommene Denkmuster und Verhaltensweisen aufzugeben und mutig Neues zu wagen. Als Gesellschaft müssen wir erkennen, dass in vielen Feldern Weniger Mehr ist: Wir brauchen weniger Konsum, weniger Egoismus, weniger Gewinnorientierung. Notwendig sind mehr Verzicht, mehr Solidarität, mehr Bewusstsein für die Verwundbarkeiten unserer Welt und mehr Sorge füreinander - im Kleinen wie im Großen.

Und als Kirche muss unser neues Normal so aussehen, dass wir einladend, optimistisch, fröhlich Kirche im Dienst an den Menschen sind. Als Kirche werden wir uns für dieses Normal in der Gesellschaft einsetzen, nicht nur an der Seite der Armen, Entrechteten und Einsamen, sondern mitten unter ihnen. Das ist die Botschaft Jesu Christi, der als Erlöser aller Menschen in die Welt gekommen ist und das Zentrum unseres Glaubens und allen kirchlichen Lebens darstellt."

Der Bischof von Münster, Dr. Felix Genn© Bischöfliche Pressestelle
Der Bischof von Münster, Dr. Felix Genn
© Bischöfliche Pressestelle

Ausgetretene finden Kirche trotzdem wichtig

Die innere Distanz zum christlichen Glauben und die Kirchensteuer sind häufig genannte Motive für einen Austritt aus der evangelischen Kirche, so das Ergebnis einer Pilotstudie. Die westfälische und die württembergische Landeskirche wollten wissen, was hinter den Zahlen zur Statistik steckt, die an diesem Mittwoch (14.07.) von der Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) ebenso wie von der Deutschen Bischofskonferenz veröffentlicht wird. Deshalb haben sie seit Oktober 2020 insgesamt 464 Telefoninterviews mit Personen geführt, die im Vormonat ausgetreten waren.

Die Mitgliederzahl der Evangelischen Kirche von Westfalen (EKvW) ist 2020 gegenüber dem Vorjahr um 2,1 % auf 2.104.806 zurückgegangen (Stichtag war der 31.12.2021). Der größte Faktor waren dabei die Todesfälle (36.300). Die Zahl der Verstorbenen stieg 2020 im Vergleich zum Vorjahr (35.292) um 2,9 %. 16.123 Personen (2019: 20.792) sind aus der westfälischen Landeskirche ausgetreten. Das entspricht einem Rückgang von 22,5 %. Dem standen 2.259 Eintritte gegenüber (2019: 3.445), das sind 34,4 % weniger als im Vorjahr.

In Westfalen gab es im Jahr 2020 wegen der Corona-Pandemie deutlich weniger evangelische Trauungen: 1.029 Paare traten vor den Altar, 2019 waren es noch 3.387 (-69,6%). Die Zahl der Taufen war mit insgesamt 8125 ebenfalls deutlich geringer. Der Zahl aus dem Jahr 2020 stehen 15.564 Taufen im Jahr 2019 gegenüber (-47,8%). 

"Ein Jammer, dass im vergangenen Jahr so viele Taufen und Trauungen nicht wie geplant stattfinden konnten. Sie bieten kostbare Anknüpfungspunkte für unsere Kirche, um mit Menschen in persönlichen Kontakt zu treten und in Kontakt zu bleiben", sagt Präses Annette Kurschus, leitende Theologin der EKvW, zu den jetzt vorgestellten Zahlen für 2020. In den Gemeinden werden viele Feiern in diesem Jahr nachgeholt, was dank niedriger Corona-Inzidenzen und bewährter Schutzkonzepte möglich ist. Kurschus macht ausdrücklich Mut: "Kommen Sie wieder in die Kirchen und Gemeindehäuser! Leiblich spürbare Gemeinschaft ist durch nichts zu ersetzen, sie belebt unseren Glauben und nährt unsere Hoffnung."

Annette Kurschus, Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen (EKvW)© EKvW
Annette Kurschus, Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen (EKvW)
© EKvW

Anlass für die Pilotstudie der beiden Landeskirchen war, dass die Austrittszahlen seit 2018 über dem langjährigen Durchschnitt lagen. Im Jahr 2020 traten zwar weniger Menschen aus der Kirche aus, was aber mit der Corona-Pandemie zusammenhängt, denn die zuständigen Amtsgerichte waren zeitweise geschlossen.

61 % der kontaktierten Personen waren zu einem Interview für die Studie bereit. Zum Austrittsanlass Kirchensteuer nannten die Befragten unterschiedliche Motive. Manche wollten schlicht sparen, andere vermissten einen konkreten Gegenwert und wieder andere konnten sich die Kirchensteuer beispielsweise als Alleinerziehende nicht leisten. Die meisten Befragten nannten allerdings keinen konkreten Anlass für ihren Austritt.

"Der Austritt ist oft Ergebnis eines längeren Prozesses oder Konsequenz aus grundsätzlichen Motiven. Wenn die Befragten von einem konkreten Anlass berichten, handelt es sich meistens um ein aktuelles Thema oder um ein persönliches Erlebnis", berichtet Pfarrer Hansjörg Federmann, bei der westfälischen Landeskirche für Mitgliederbindung zuständig. Dazu gehöre auch, dass die Kirchenmitgliedschaft in der Vergangenheit nicht aktiv wahrgenommen wurde: "Für mich ist es mit der Kirche wie mit einem Fitness-Studio, für das ich Beitrag zahle, aber nie hingehe", so einer der Befragten. 

Ein erfreuliches Ergebnis der Studie lautet: Menschen, die aus der Kirche ausgetreten sind, finden es mehrheitlich trotzdem wichtig, dass es die evangelische Kirche gibt. Das gilt sowohl für jüngere als auch für ältere Befragte.

Bei den Austrittsmotiven lassen sich drei Komplexe unterscheiden, nämlich Motive, die sich auf das Handeln der Kirche beziehen, Motive, die Glaubensverlust oder Indifferenz der Kirche gegenüber ausdrücken, und Motive, die für eine individuelle Nutzen-Abwägung stehen. Das Handeln der Kirche spielt vor allem für Menschen ab 40 Jahren eine Rolle, wenn sie überlegen, aus der Kirche auszutreten, so das Ergebnis der Auswertung von Peter Jacobebbinghaus, Statistiker im Landeskirchenamt in Bielefeld. Für die Befragten unter 40 Jahren sind es vor allem der Glaubensverlust und die Nutzen-Abwägung, die den Kirchenaustritt bewirken.

Die männlichen Ausgetretenen stehen sowohl der evangelischen Kirche als auch dem Glauben im Allgemeinen häufiger gleichgültig gegenüber als die weiblichen Ausgetretenen. Das Wohnumfeld spielt keine Rolle: Ob man auf dem Land oder in der Stadt lebt, hat keinen Einfluss auf die Austrittsneigung. 

Beim Vergleich der beiden beteiligten Landeskirchen gibt es nur wenig Unterschiede: Insbesondere in Württemberg zeigte sich, dass im ersten Quartal 2021 die Bedeutung der Kirchensteuer als Austrittsmotiv abnimmt und es stärker um das Handeln der Kirche geht. Konfessionswechsel spielt in beiden Landeskirchen kaum eine Rolle.

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